Christiane Görner

Ma Rosa's Büchse

LITAUEN eine Reise vom 28.7. bis 5.8.2015 - Eine Reise zu Johannes Bobrowski

Vorgeschichte:
Meine erste bewusste Wahrnehmung des Landes Litauen geschah vor ca. 25 Jahren. Der junge Mann stellte sich mit „Ballnus“ vor und ergänzte verschmitzt lächelnd: „Litauischer Landadel“. Für mich hatte das Land Litauen von Anfang an etwas sagenhaft Geheimnisvolles und Dunkles. Gebrochene Strukturen, Brüche in einer schweren Masse durch die hauchfeines Licht schimmert aus verborgenen Tiefen, Holzschnitzereien, eher grob geschnitzt, tiefe Wälder, etwas Scherenschnitthaftes.

Die große Liebe zu dem Mann litauischer Abstammung wurde wenige Jahre später von mir selbst leider aus – ich kann es nicht anders nennen - purer Dummheit torpediert und der gewissermaßen harmloseste Siegelabdruck ihrer Zerstörung war ein blaues Auge meinerseits, versehentlich eingefangen bei einem vor verzweifeltem Herzschmerz entstandenen, lautstarken Handgemenge irgendwo in einem Dorf in den Masuren auf offener Straße. Den Namen des Ortes habe ich vergessen. Aber ich sehe noch verschwommen das Gesicht eines Mannes vor mir, der in einigem Abstand ruhig da steht und das Spektakel mit einer Mischung aus Verwunderung und Sorge aufmerksam verfolgt. Verständlich, dass für mich die Masuren und alles was noch weiter östlich liegt, nach diesem Vorfall eher noch düsterer erschien.

2006, etwa 12 Jahre später, ging die Reise dann doch wieder gen Osten: ich fuhr mit meiner Mutter in eine Gegend, von der sie - für mich absolut nicht nachvollziehbar, - immer wieder sehnsuchtsvoll als der „Heimat“ spricht. Der kleine Ort ist von Berlin eigentlich gar nicht so weit entfernt, knapp 4 Stunden mit dem Auto. Ich näherte mich dem Land Polen nun von einer ganz anderen Seite, allerdings wiederum stark emotional geprägt: das innere Beben meiner Mutter miterlebend, ihren Schmerz der Wiederbegegnung mit unwiederbringlich Verlorenem.

Der Anlass: „Der verspätete Hirte“
Im Dezember 2014 zeigte mir jemand das Gedicht „Der verspätete Hirte“ von Johannes Bobrowski mit der Bitte, bei der Interpretation und sprachlichen Umsetzung zu helfen. Ich hatte den Namen des Dichters schon mal irgendwo gehört, aber keinerlei Vorstellung. Ich recherchierte also und arbeitete das Gedicht etwas aus. Es irritierte und berührte mich. Es vereinte stilistisch so Widersprüchliches, erschien mir grob und zart, naiv und modern zugleich. Ich las mehr von Bobrowski, seine späteren Gedichte, seine Romane... ich war beeindruckt und freute mich über die Entdeckung. Die Tatsache, dass zwei Bobrowski-Jubiläen anstehen: - 2015 ist sein 50. Todesjahr und 2017 naht sein 100. Geburtstag – blieb mir im Gedächtnis und so kam es, dass ich bei einem Treffen mit Kolleginnen, als es um die Frage der Gestaltung eines künstlerischen Programms ging, ich spontan vorschlug, sich dem Leben und Werk Bobrowskis zu widmen. So geschah es; wir recherchierten, lasen, wählten aus, verwarfen....

Und im Zuge dieser intensiven Auseinandersetzungen spürte ich mehr und mehr, dass ich diese Landschaft, von der Bobrowski schreibt: „Jeder meiner Träume hat diese Landschaft zum Schauplatz“ selbst erleben möchte, dass ich dorthin will.

Die Reise
Es ergab sich, dass ich in den Sommerferien 2015 noch eine gute Woche frei verplanen konnte und so schrieb ich – zunächst einmal noch ganz im Abklopfen der Möglichkeiten – an die JohannesBobrowski-Gesellschaft mit der Frage nach einer Landkarte, auf der die deutschen, russischen und litauischen Namen der Orte genannt werden. Ich hatte nämlich vergeblich versucht, mir mit herkömmlichen Landkarten Kenntnis zu verschaffen.

Zwei Tage nach Eintreffen der freundlichen Antwortmail der Gesellschaft erhielt ich eine weitere mail zu diesem Thema und zwar – zu meinem Erstaunen – von einer mir gänzlich unbekannten Frau namens Edda Fricke. Frau Fricke mailte mir kurzerhand den link zu der Internet Seite, wo ich genau die richtige Karte bestellen könnte. Was ich auch tat. Das war am 21. Juli.

Wahrscheinlich angeregt durch dieses Auftauchen einer offensichtlich absolut fachkundigen Unbekannten und nicht zuletzt durch die ganz kurze Bemerkung derselben, sie sei gerade selbst auf dem Sprung nach Litauen, um dort mit Freunden zum wiederholten Male Bobrowskis Kindheitsorte zu besuchen, stand die Idee, diese unbekannte Person an einem unbekannten Ort zu treffen, plötzlich im Raum. Doch hätte ich die Sache vielleicht doch nicht gewagt, hätte mir Frau Fricke nicht die hilfsbereite Frau Meire in Willkischken empfohlen, zu der ich in deutscher Sprache per mail Kontakt aufnehmen konnte, mit der Frage nach Übernachtungsmöglichkeiten in Vilkyskiai/ Willkischken.

Ehe ich mich` s versah, hatte ich also ab 28.7. ein Zimmer im Hotel „Lavirga“ in Willkischken, eine Zusage von Frau Meire, mich an alle Orte der Gegend zu führen, die im Zusammenhang mit Bobrowski interessant sind und die Aussicht, Frau Fricke daselbst im Bobrowski Museum am Samstag den 1. August zu treffen.

Blieb also nur noch zu klären, wie ich nächste Woche von Berlin nach Litauen komme. Nun begann das eigentliche Abenteuer. Ich reservierte kurzentschlossen und zum Bestpreis ein Auto, konnte es aber (zum Glück) nicht sofort bezahlen, da ich keine Kreditkarte besitze. Als ich vorsichtshalber nachfragte, ob es Probleme geben könne, wenn das Auto mit einer Kreditkarte bezahlt wird, die nicht meine eigene ist, (jawohl, das gibt Probleme) erfuhr ich am 24.7. auch gleich, dass diese Firma mir das Auto für eine Reise nach Polen sehr wohl vermieten würde, nicht aber für eine Reise nach Litauen. Ebenso wie alle anderen großen Autovermietungen in Deutschland. Litauen liegt also hinter der Vermietungs-Schallgrenze.

Flüge gab es nicht mehr, das wäre auch zu kompliziert geworden. Ich suchte in Eile einen Ort in Polen heraus, der möglichst nah an Litauen liegt und zu dem von Berlin aus eine gute Zugverbindung besteht. Mit Hilfe eines sehr freundlichen Reisebüros (Kopfbahnhof/ Yorckstraße) fiel die Wahl auf Olsztyn/ Altenstein. Ich versuchte an selbigem 24.7. eine Autofirma in Olsztyn zu finden, die nahe am Bahnhof ist und die mir gegen Kaution und mit Barzahlung ein Auto vermietet, mit dem ich nach Litauen fahren darf. Das klappte sehr gut: Schon die zweite im Internet gefundene Telefonnummer bescherte mir eine kompetente, englisch sprachige Mitarbeiterin, die mir zusagte, das würde gehen, ich solle nur am Montag 27.7. noch mal anrufen, wenn der Chef da sei, ganz eigenständig könne sie es nicht zusagen. Am Montag dann also die Zusage des Chefs, ebenfalls ein sonniges Telefonat. Dienstag 28.7. um 6:37 Start Richtung Olsztyn via Poznan ab Berlin Hauptbahnhof. Berlin verlassend Richtung Litauen, erlebte ich die Stadt so anders:

Berlinchen Winke Winke
Ein Zewalind verwischt im Regen,
Ein Kaiser Wilhelm ohne Bart,
Ein Swimming Pool mit Dom daneben,
Ein Startgespräch noch vor dem Start,

Ein weder Ost noch West noch nicht mal
beinah ein Strandcafe auf Sand gebaut,
Ein Affenwitz bei aller Liebe
Ein Loch, ein Nichts wie hin in eine zweite Haut.

Und ging noch nicht mal auf beim Würfeln,
man half sich aus mit Waschbenzin.
Ein Angelhaken prallgespickt mit Trüffeln;
nicht Fisch nicht Fleisch nicht Wolke – schön ists in Berlin.

Bei Frankfurt/Oder über die Oderbrücke zu fahren ist so ein Moment. Dann verändern sich schnell die Landschaft und der Himmel; alles wächst und weitet sich. Ich fuhr im „Warszawa Express“ bis Poznan (Posen), hatte dort knapp zwei Stunden Aufenthalt, staunte über die shoppingmall, die größer, moderner und technisierter ist als der Bahnhof selbst, die also mit sehr trauriger Grobheit das heruntergekommene, eigentlich viel schönere alte Bahnhofsgebäude hämisch anprotzt und fuhr dann in einem polnischen Bummelzug nach Olsztyn. Die Reise dauerte insgesamt knapp neun Stunden, ich stieg mutig eine Station vor dem Hauptbahnhof aus, da ich im Internet recherchiert hatte, dass diese Station näher zu der sagenhaften Autovermietung liegt. Die Schwierigkeit, polnische Namen zu unterscheiden, ist nicht unerheblich und mit Himmelsrichtungen bin ich auch nicht sattelfest. Aber ich stieg richtig aus, fand direkt an der kleinen Station einen Taxistand und landete Nullkommahopp in einem Luxushotel voll deutscher Touristen, die sich tüchtig langweilten.

„Hotel Omega“ in Olsztyn. Hat alles sehr gut geklappt. Nur müde bin ich. Und wenn der Zucker fehlt beim Café – gleich eine Melodie im Ohr. Das geht aber andersrum: Ich habe eine Melodie im Ohr und denke: „Woher?“ Dann kombiniere ich: „When my sugar walks down the street...“ Und dann bin ich so beschäftigt mit dem arroganten Kellner, dass ich das schwer ergatterte Tütchen Zucker aus Versehen in den Aschenbecher leere. Das geht blitzschnell, so schnell, dass ich kichern muss, statt mich zu ärgern und das wiederum tröstet über den nun sehr bitteren Kaffee hinweg. Schöner Wind. Schöne Bäume. Am Billardtisch: Holofernes. Holofernes aus Düsseldorf, thessalonikischer Abstammung. Der mir hier sicher mindestens das Ohr abquatschen würde, er leidet unter Langeweile. Auf dem Klo ein Anruf meines Autoschraubers aus Berlin, es ist lustig zu sagen: „Ja, hallo, ich bin in Polen.“ Selbst wenn man Details weglässt, bleibt es irgendwie lustig, warum eigentlich? Es wäre nicht so lustig zu sagen „Ich bin in Spanien“. Und Bobrowski Bobrowski, ... Jetzt muss ich das Navi gleich einstellen. Oder erst in Litauen? Ja, erst in Litauen. Solche Wolken gibt es hier! Dieser riesige Himmel. Holland ist dagegen eine Scheibe Jagdwurst. Oder Sülze? Ja: hauchdünne Scheibensülze.“

Der arrogante Kellner im Omega hatte mir fünf oder sechs Münzen Wechselgeld gegeben, die irgendwie komisch aussahen. Ich überwand mich nachzufragen. Er lächelte kühl hinter seiner Bar voller Eiswürfel und antwortete, die wären schon in Ordnung und er hätte keine anderen. Ich war skeptisch, beschloss aber, positiv zu sein und kein großes Aufheben zu machen wegen einer Geldsumme, die vielleicht 10 Euro ausmacht.

Der junge Mann an der Autovermietung machte sowieso alles wieder gut: außerordentlich freundlich und kompetent. Er gab mir auch noch ein Buch mit Straßenkarten von Polen mit. Das war meine Rettung. Die Richtung hatte er mir gesagt, also... das hörte sich doch ganz einfach an. Ich ging unterwegs einkaufen im Supermarkt. Natürlich immer Angst, dass das Auto verschwindet, sobald ich es aus den Augen lasse. Alle Wertsachen mitnehmen, Papiere usw.; ich also in den riesigen Supermarkt. Der Mann an der Kasse wollte die Münzen nicht nehmen, die der EiswürfelBarmann mir gegeben hatte. Schon regte ich mich schrecklich auf, die kleinbürgerliche Unsicherheit immer und überall die Betrogene zu sein, all dieser mit Muttermilch und Vaterbier aufgesogene Angstmief... Ich entblödete mich nicht den freundlichen jungen Mann von der Auto Vermietung anzurufen um nachzufragen und gegebenenfalls eine fette und natürlich sehr wichtige Beschwerden-Flüssigkeit abzusondern. Es ging nicht um 10.- Euro, sondern ums PRINZIP. Der junge Mann beruhigte mich, ließ sich geduldig den Kellner schildern und das Gespräch endete mit einem Scherz. Tatsächlich waren es Münzen einer Sonderedition, ohne Aufdruck einer Zahl, das fand ich auf der Rückfahrt in einer Bank heraus. Der Mann an der Kasse im Supermarkt kannte sie nur nicht. Irgendwann werden sie vielleicht sogar sehr wertvoll. - am Ende der Reise gab ich dem Chef der Autofirma alle Münzen (bis auf eine), als Trinkgeld für den jungen Mitarbeiter, der mich bei der Abholung so gut beraten hatte. Der Chef bat mich, doch auch eine mail an die Autofirma zu schicken und meine Zufriedenheit mit dem Team an die Geschäftsleitung zu kommunizieren. Ich fragte nach dem Namen des Mitarbeiters. „Jakub“ antwortete der Chef. Ich fragte nach dem offiziellen Namen. „Jakub von Olsztyn“ sagte der Chef gemütlich. Aber er hat mir den vollen Namen dann noch aufgeschrieben. Und mich nach dem bühnenreifen Bezahlungsprozedere am Ende der Reise auch noch in die Altstadt chauffiert. Die polnische Autovermietung und ich – ein super Team! Doch ich greife voraus.

Die Fahrt ging ja erst los. Richtung Augustow und einem Ort mit „S“ den ich mir partout nicht merken konnte. Es gab leider auch viele Orte, deren Name so ähnlich klang wie „Souflaki“. Als ich merkte, dass das - vorsichtshalber doch eingeschaltete - Navi mich die kürzeste Strecke - durch die Kaliningrader Oblast - führen will, wurde es anstrengend. Ich hatte ja kein Visum für das russische Gebiet. Immer wieder kontrollierte ich auf der Karte, ob ich weit genug südlich bin. Ich konnte in diesem Straßenkarten Atlas auf keiner Seite die ganze Strecke überblicken, also musste ich beim Fahren versuchen, die polnischen Ortsschilder zu lesen, sie mir blitzschnell einzuprägen und dann versuchen, die Namen auf der Karte wieder zu entdecken. Altersweitsicht ist dabei keineswegs hilfreich. Etwas hilfreicher war die Begegnung mit einem finnischen Mann bei einem Fischimbiss kurz vor Masuren, der mit einer knallroten Ente gerade aus Lettland kam. Dort hatte er an einem internationalen Treffen von Ente – Fans teilgenommen. Sein Auto war übrigens hochtechnisiert und voll campingtauglich. Er machte mir viel Mut, sagte, dass es kein Problem sei, Litauen zu finden, bestärkte mich in Richtung der Stadt mit „S“ zu fahren und einfach auf das Navi zu hören. Und er berichtete, immer im Auto zu übernachten, irgendwo am Straßenrand. Ich fuhr weiter, kam nach Masuren, leider im Dunkeln. Dann verfuhr ich mich irgendwie, wurde sehr müde, beschloss zu schlafen. Ich fuhr auf einem ganz kleinen Weglein etwa 30 Meter in den Wald rein, dort hatten offenbar schon mal Autos gestanden. Ich mache es kurz: nach etwa einer Stunde fuhr ich weiter. Neben dem regelmäßig unregelmäßigen Aufprallen dicker Regentropfen, Hundegebell und immer mal wieder vorbeirauschenden Autos, klapperten meine Zähne viel zu laut, um einschlafen zu können. Ich kam mir in dem Auto liegend wie auf einem Präsentierteller für alle bösen Wesen dieser Welt vor. Als Sonderangebot.

Ich erreichte gegen Mitternacht die Stadt mit S: Suwalki - und fand eine Tag und Nacht geöffnete Trucker-Herberge, es war tatsächlich noch ein Zimmer frei, es kostete ziemlich genau den Betrag, der mir in polnischer Währung zur Verfügung stand, exklusive der seltsamen Münzen. Ich fühlte mich als Königin der Landstraße und fuhr anderntags zuversichtlich weiter. In Litauen erwartete mich ja das Hotel Lavirga. Es war ein Mittwochvormittag und die Straßen wurden, je mehr ich mich der Grenze näherte, immer freier. Das war später auf der Rückfahrt, an einem Montagnachmittag, GANZ anders. Als ich die Grenze passiert hatte, war ich sehr erleichtert; ich näherte mich einem Gebiet, von dem mir eine detaillierte Karte zur Verfügung stand und ich war nicht mehr in Gefahr in die Kaliningrader Oblast abzudriften. Leichter Nieselregen. Ich hielt an einer Tankstelle, um die Toilette zu benützen und den ziemlich schlechtesten Automatenkaffee meines Lebens zu goutieren. Auf der Rückseite der Tankstelle war eine Art Aussichtsplattform, ein verfallenes Holzgerüst, das vielleicht irgendwann früher als Terrasse in einen kleinen See hineinragte. Ein Abhang war jedenfalls da. Es sah für die Zukunft vielversprechend aus. Ob der Atem reicht um bis zu dieser Zukunft durchzuhalten war mir in der etwas bleiernen Vormittagsstimmung eine eher bange Frage. Auch, ob auf dieser kleinen Landstraße irgendwann genug Reisende unterwegs sein werden, um die Kosten und Mühen der Modernisierung zu lohnen.

Als ich in Willkischken ankam, bot sich mir das Bild einer bereits erfolgreich durchgeführten Ortsverschönerung. Von der bepflanzten Straßeninsel im Verkehrsknotenpunkt des Ortes, von dem drei voll verkehrstaugliche Straßen abgehen, bis zu den Fassaden von Gutshaus und umliegenden Gebäuden oberhalb dieses Kreisverkehrs: alles picobello.

Ich fand auch unschwer am besagten und einzigen Verkehrsknotenpunkt des Dörfchens prangend das Hotel Lavirga und es gefiel mir außerordentlich: Blühender Garten, in dem ich mich schon lustwandeln sah, kleine Terrasse vor dem Haupteingang, Lebensmittelgeschäft im Nachbargebäude.

Ich parkte erst mal unterhalb des Gutshauses, wo ich die Tourismuszentrale vermutete, denn es war Zeit für mein Treffen mit Frau Meire. Eine Frau, die nicht Frau Meire war, wies mir den Weg zum Tourismusbüro, wenige Meter vom Gutshaus entfernt. Frau Meire war nicht da und so ging ich ins Hotel. Mittagszeit. Eine schwarzgefärbte, nicht nur keinerlei Fremdsprache sprechende, sondern eigentlich stumme Dame an der Rezeption. Ich erklärte mir ihre meisterhafte Fähigkeit durch mich durchzusehen mit dem Andrang irgendwelcher hungriger Reisegruppen. Dank meiner wiederum meisterhaften Fähigkeit zu höflicher Impertinenz erhielt ich ein sehr preisgünstiges Mittagessen. Auf meine Aussage, ich habe ein Zimmer im Hotel reserviert und die Nennung meines Namens reagierte die Dame übrigens mit stoischer Indifferenz und einer Art Unverständnis. Mein Hoffen richtete sich mehr und mehr auf Frau Meire.

Begründet, denn sie war vom ersten Augenblick unserer Begegnung der Stern meines Aufenthaltes in Willkischken und klärte mich nach und nach über alles auf. Da sie jederzeit und für jeden Besucher des Ortes ein offenes Ohr hat und alle Sehenswürdigkeiten gerne zeigt, ist sie nicht immer zu den angegebenen Zeiten in ihrem Büro.

Ich traf sie aber bald nach meinem Mittagessen dort an und sie ging mit mir zum Hotel, regelte die Zimmervergabe und wir verabredeten uns für nachmittags. Das Zimmer lag im Nebengebäude über dem Lebensmittelgeschäft und war ebenso einfach wie lieblos eingerichtet. Frühstück gab es in diesem Hotel nicht, aber einen Wasserkocher und einen Kühlschrank auf dem Flur zwischen meinem Zimmer und dem großen Badezimmer.

Mit dieser Selbstversorgungsmöglichkeit war das Zimmer natürlich stark aufgewertet und dann auch tatsächlich teurer als von Frau Meire angekündigt. Das klärte sich wie gesagt nach und anch alles auf, auch der Umstand, dass es abends sehr laut wurde in diesem Etablissement, weil im Zimmer gegenüber mehrere Monteure nächtigten, die am Bau der Windräder tätig sind. Der Lautstärke nach vermutete ich ca. 7 Männer, es waren vielleicht auch manchmal sieben, aber Betten gab es "nur" drei in dem Zimmer wo sie wohnten.

Frau Meire hatte gedacht, ich sei ein Mann. Warum, weiß niemand genau. Jedenfalls hatten sie im Hotel also auch gedacht, ich sei ein Mann. Für Männer sind die Zimmer vielleicht immer billiger? Auf jeden Fall: dieses Detail macht vielleicht die kühle Art mit der ich dort empfangen wurde, verständlicher. Mehr noch wurde mir Alles verständlich, als ich erfuhr - woher weiß ich gar nicht mehr - dass dieses Hotel einem Herrn gehört, der jetzt Bürgermeister des Ortes ist und es gar nicht mehr nötig hat, ein Hotel zu betreiben. Der Privatbesitz um das Hotel herum zeugt also nicht von gelungener Hotellerie sondern von kräftig fließenden EU Geldern, - was ja sicher auch ein gewisses know how erfordert. Aber…. ob dieser Golfrasen hinter dem Haus eine nachhaltige Investition zum Wohl der Gemeinde darstellt, also… ich meine ja nur so.

Vilkyskiai
Eine katholische Kirche in einem ehemals jüdischen Herrenhaus, das in der Sowjetzeit als Kommandozentrale und Folterkeller diente. Sieht übrigens immer noch aus wie ein Gefängnis. Im Hotel Lavirga trinke ich auf der Terrasse vorne einen Kaffee. Zwei Jungs auf einem Moped umrasen den Kreisel, mindestens sieben Mal, dann plötzlich rasen sie die Straßenböschung Richtung Gutshaus hinauf, berasen also den Rasen rauf und runter und werden wenige Sekunden später mit Blaulicht und Horn von einer Polizeistreife gestellt, oben am Gutshaus. Wo die Polizei versteckt war… - keine Ahnung. Eine Frau entfernt mit einem Messerchen kleine Grasbüschel aus den Spalten des frisch gesetzten Bürgersteiges. Sie sieht bedrückt aus. Vielleicht ist ihr diese Arbeit peinlich? So gepflegt das Alles hier. Aber die Menschen …. schauen mir nicht so leicht in die Augen. Sprachbarriere. Auch.

Übrigens profitierte ich von dem Garten beim Hotelgebäude, ich durfte ihn begehen und saß dort auch auf der großen Schaukel, blickte auf Rabatten, Gutshaus und Straßeninsel, alles hübsch, so lange man noch die Illusion haben kann, man säße im Garten eines wirklichen Hotels. Ohne diese Illusion, und nachdem ich die Lebensumstände der Einheimischen insgesamt etwas kennen gelernt hatte, betrat ich den Garten nicht mehr. Das ist vielleicht etwas von dem "Scherenschnitt - haften" dieses Landes; es driftet gerne an einer Naht der Unbestimmtheit entlang, kann sich nicht bilden zu dem, was es ist und dann geschieht die verhasste Fremdbestimmung. Es geschieht ja sowieso immer das, wovor wir am meisten Angst haben, nicht?

Ich habe zum Beispiel Angst vor Lärm, der mich beim Einschlafen stört. Aber was ist das bewährte Mittel gegen Angst? Liebe natürlich. Manchmal wird Liebe erschwert. Z.B. durch den überraschenden Anblick eines vorsintflutlich anmutenden, riesigen Schweineoberschenkelknochens im bzw. aus dem Hygienebehälter (ragend) neben der Toilette, Reste eines sorgfältig abgenagten sogenannten „Eisbeins“, dass unter den gegebenen Bedingungen wohl auch eiskalt verzehrt worden war. Ich war alarmiert. Aber als einer der Monteure bei mir klopfte und mit seinen paar Brocken Englisch versuchte, mich für einen gemeinsamen Drink zu gewinnen, war das so rührend, er war wirklich so höflich… ich konnte also guten Herzens ablehnen und log auch nicht, als ich angab, sehr müde zu sein.

Frau Meire hatte mich am Nachmittag nämlich gleich in das Bobrowski-Museum geführt, dort ist ja viel zu entdecken. Dann eine Tour durch die hochmoderne Attraktion des Tourismus-Museums: eine Filminstallation über die alte, leider stillgelegte Eisenbahn von Tilsit nach Willkischken bzw. Lompöhnen. Also auch eine Reise, die direkt in die "Litauischen Claviere" führt, ich erkannte vieles aus dem Roman wieder. Am nächsten Tag fuhren wir nach Motzischken zum Geburtshaus von Johanna Buddrus, dort hatten Johannes Bobrowski und Johanna auch geheiratet. Es ist ziemlich versteckt außerhalb von Motzischken im Wald. Alleine hätte ich es schwerlich gefunden, trotz der Karte, die der geniale und außerordentlich engagierte Jürgen Naß hergestellt hat und auf der detailliert alle Orte der Gegend mit zugehöriger Legende der relevanten Gedichte, Romane, biographischen Eckpunkte Bobrowskis verzeichnet sind.

Das Haus steht übrigen zum Verkauf. Wir pirschten uns an, denn beim vorigen Besuch Frau Meires war ein scharfer Wachhund dort. In Konsequenz der vollzogenen Renovierung ersetzte diesen nun eine Videokamera. In seltsamem Kontrast zu dieser technischen Überwachung: Asche und verkohlte Holzscheite von einem Lagerfeuer, rostige Eisenteile darauf und farbige, milchig geglühte Scherben. Der Brunnen. Von Betonschalen eingefasst und irgendwie tot. An der einen Längsseite des Hauses stand ein Tisch mit zwei Fotos darauf, eines lag, eines stand in einem wettervergammelten Holzrahmen. Gesichter. Menschen, die in dem Haus wohl gewohnt hatten. Apfelbäume.

Wir fuhren nach Sokaiten, per Auto etwa 15 Minuten entfernt von Motzkischen. Das Fährhaus steht noch. Mein erster naher Blick auf die Memel. Mein erster Blick auf das gelbe Warnschild "russischer Sektor". Gehöfte. Frauen mit Kühen. Blumengärten, aber ganz anders als beim Hotel Lavirga. Keine Maskerade. In den Gärten der Landbevölkerung blühen die Blumen der "Paradiesstraße" in ihrer bäuerlichen Ordnung, eine vitale, magische, wilde Ordnung; Malven, Sonnenblumen, Phlox und Samtnelken, Rittersporn, Rosen und Kräuter und Gemüse natürlich. Den schönsten Garten hat Frau Kristina Blankaite. Dort haben die kleinen Holzhäuser auch so einen wundervoll Pfefferminz - pastellfarbenen Anstrich. Ein himmelblauer Kasten in Form eines Vogelhäuschens thront auf einer Stange mitten in einem Beet. Zwei Seiten sind verglast und verschwommen sehe ich t, eine kleine Holzskulptur: eine sitzende, sinnende Gestalt, ein Mann, den Kopf auf den Arm und den Arm auf die Beine gestützt. Ein sinnender Christus? Ein sich verjüngender Perkun, der in sich hinein lauscht?

In der bekannteren Form eines "Marterls" hier auf jeden Fall etwas ganz andersartiges, etwas, das ich so noch nie gesehen habe. Und es berührte mich ganz tief. Wenige Meter entfernt rankten sich hohe Rosenbögen über eine am Boden stehende Skulptur, eindeutig ein Antlitz der höchsten Litauischen Gottheit, der alte bärtige Perkun, das strenge Gesicht geschnitzt mit Augenbrauen, die zu Himmelsbögen werden, eine Gestalt, die in aller Einfachheit Erde und Himmel und alles was dazwischen lebt, vereint, ein Gottvater. Es war eine besondere Ehre für mich, dass ich Kristina Blankaite besuchen durfte zusammen mit Frau Meire. Oh, wie wurde aufgetischt! Das traditionelle Buttergebäck, Käsebrote, Wurstbrote, Kuchen… immer wieder frischgebrühten Kaffee, so wie es dort üblich ist: das Pulver in der Tasse aufgegossen, abgewartet, fertig.

Frau Meire übersetzte immer hin und her. Dann fuhren wir zu einem Ort steinzeitlicher Ausgrabungen, ein hoher Wall oberhalb endloser satter Memelwiesen. Es gibt mehrere solcher Orte in der Umgebung, Orte frühzeitlicher Besiedlung, die auch eine eigene Sprache darüber sprechen, wie Landschaft und Mensch sich einstmals fanden und liebten. Das muss eine wirklich paradiesische Liebe gewesen sein. Die überfluteten Memelwiesen boten reichlich Fisch und floss das Wasser im Frühsommer ab, wuchs und wächst bis heute kräftiges, würziges Gras, das der Milch und dem Käse den besonderen Geschmack gibt; den Geschmack des „Tilsiters“ nämlich. Ich dachte früher, Tilsit sei ein kleiner Ort im Appenzell, wunderte mich auch, es auf keiner Karte zu finden, schob das dann auf die Winzigkeit des Ortes, aber nun ist alles umgekehrt, der Tilsiter Käse wurde von aus der Schweiz weit Ausgewanderten im späteren Geburtsort Bobrowskis kreiert.

Westlich der Memel, auf der flussabgewandten Seite des Walles, lagen auch Wiesen, geschützt und umhüllt von Wald, der zum Jagen und Beeren sammeln einlädt: paradiesisch!

Wir besichtigten das Gut Schreitlauken, einstmals eine der größten Pferdezuchten Ostpreußens, einst mit tausenden von Fohlen, wanderten im Regen den Kapellenberg hinauf zum Grabhügel der einstigen Gutsbesitzer. Der Weg vom Gut zur Kapelle, nach der der Berg benannt ist, die aber zerstört ist, war einstmals eine Eichenallee, nun nur noch ein schmaler Pfad, der droht zu verwachsen. Er führt immer aufwärts zu einem kleinen Friedhof mit wenigen Grabstätten der ehemaligen Gutsbesitzer. Der Erhalt dieser Stätte ist Frau Blankaite zu verdanken. Sie wusste auch einiges von den verstorbenen Persönlichkeiten zu berichten.

Wir besichtigten das Gut Schreitlauken, einstmals eine der größten Pferdezuchten Ostpreußens, einst mit tausenden von Fohlen, wanderten im Regen den Kapellenberg hinauf zum Grabhügel der einstigen Gutsbesitzer. Der Weg vom Gut zur Kapelle, nach der der Berg benannt ist, die aber zerstört ist, war einstmals eine Eichenallee, nun nur noch ein schmaler Pfad, der droht zu verwachsen. Er führt immer aufwärts zu einem kleinen Friedhof mit wenigen Grabstätten der ehemaligen Gutsbesitzer. Der Erhalt dieser Stätte ist Frau Blankaite zu verdanken. Sie wusste auch einiges von den verstorbenen Persönlichkeiten zu berichten.

Ein weiterer Grund das nächste Mal MIT Visum durch die Kaliningrader Oblast zu reisen. Am Tag vor dem Besuch bei Frau Blankaite war ich mit Frau Meire in Bithenen. Dieses Dorf war mir neben Vilyskiai der liebste Aufenthalt. Hauptsächlich wegen des Rombinus, der einige hundert Meter vor Bithenen am Flussufer der Memel steil aufragt. Man ist leider fast nie allein auf der touristisch einwandfrei von allen Seiten zugänglichen Aussichtsplattform. Die ursprünglich heilige Stätte ist zerstört, der riesige Opferstein abgetragen und verschiedene Legenden ranken sich um diesen Frevel.

Ich erlebte am Rombinus und in Vilkyskiai am stärksten, dass sich meine inneren Bilder, entstanden aus den Beschreibungen Bobrowskis, vor allem in seinem Roman "Litauische Claviere", erst sortieren müssen, sich korrigieren müssen und dann beginnen zu verschmelzen mit der "Wirklichkeit". Das erste, was nicht übereinstimmte, waren natürlich zivilisatorische Neuerungen: Autos, die Kleidung der Menschen… - ich erlebte das Fehlen von Schnurrbärten, Filzhüten, Kopftüchern, langen Kleidern und dunklen Herrenanzügen geradezu als schmerzlich. Denn die Landschaft und auch einige der Häuser boten doch absolut authentische Kulisse! Aber das Idyll, das Bobrowski zaubert, ist ja selbst in seiner Dichtung niemals Klischee. Immer wieder bricht er durch seinen Stil das Romantisierende auf und verweist auf den Menschen jenseits der Epoche. Das ist vielleicht eine der großen Leistungen Bobrowskis; dass er ganz drin ist in Natur und Mensch in ihrem Lebensumfeld, aber das, was er episch verdichtet aus dieser Sicht, hat immer auch den Seitenblick – oder DURCHBLICK - eines Menschen, der JETZT lebt. In seinen Gedichten gelingt ihm meines Erachtens die Transformation dieser Schwellensituation, dieses Grenzgangs zwischen Bild und Bedeutung zur "vollkommen sinnlichen Rede", die Bobrowski nach Lessing zitiert und für das Gedicht einfordert.

Aber ich bin keine Literaturwissenschaftlerin und das ist ein Reisebericht. In Bithenen ist der Park am Martynus-Jankus-Museum sehenswert, dort stehen große Gemälde und Installationen frei in der Landschaft, eine sehr gelungene Komposition. Auch das Museum selbst ist lohnenswert, man erfährt über die Persönlichkeit des Martin Jankus auch viel über litauische Geschichte. Die Storchennester in den hohen Kiefern sind vom Museum aus gut zu sehen. Das Bithenen der Ort ist, in dem die "Paradiesstraße" der Bäuerin Lena Grigoleit liegt, habe ich erst viel später kapiert, als eine Freundin mir das Buch in die Hand drückte.... Obwohl Frau Meire mir bei Frau Blankaite, glaube ich zu erinnern, doch erklärt hat, dass Frau Blankaite irgendwie sogar verwandt ist mit Lena Grigoleit. Leider habe ich das gar nicht richtig verstanden. "Paradiesstraße" ist ein wunderbares Buch. Wenn Sie etwas über Litauen verstehen wollen, lesen Sie es bitte.

Abends und morgens war ich oft auf dem Rombinus um auf die Memel zu schauen. Ich glaube dort gesehen zu haben, was Bobrowski meint, wenn er vom "weißen Wasser" schreibt.

Vormittags und mittags kommt es nicht, eher abends. Vorgestern war es da und sogar - (ich konnte es leider nicht fotografieren, der Akku war alle) tatsächlich eine Art "Nichts" zwischen den Ufern, ein Leer Raum, der auch den Blick zur Leere zwingt. Mit leisem Schaudern konnte ich diesen leeren Blick für kurze Momente aushalten, dann blitzte in mir selbst ein großes Staunen auf: Ich sehe etwas, das NICHTS ist. Die Wasseroberfläche war seltsamerweise vollkommen glatt, es war keinerlei Bewegung darauf zu sehen, dadurch verlor es jegliche Materialität. Auch die Spiegelungen der Bäume und Sträucher an den Flussrändern wirkten nicht mehr als Spiegelbild, eher wie … Ornamente oder letzte Verzierungen des Landes über einem Abgrund, der sich öffnet - oder schließt-, als besonderer Schmuck dieses Übergangs, eine Borte, ein ungewollt entstandenes Dekor, wie Rostblüten am Rande eines dünnen Eisens, ja, das trifft es am ehesten. Und dann dieses Nichts, das man "Weiß" nennen kann, oder "Leere", aber das ist auch nur so ein … "Turbatvers" der Sprache, wie es Johann Georg Hamann nennt. Weiß ist in Litauen die Farbe des Todes. Es taucht aber in der Dichtung Bobrowskis in verschiedensten Zusammenhängen auf. Wer weiß also schon?

Weiß gekleidet war übrigens auch ein berühmter Litauer, dessen Urne jüngst aus Westdeutschland auf den Bithener Friedhof überführt wurde: Wilhelm Storost, der sich "Vydunas" nannte, der "nach innen gewandte". Im Nachwort der "Litauischen Claviere" würdigt Bobrowski ihn als „verehrten Vermittler und Wahrer litauischer Volkskultur“. Wilhelm Storost - Vydunas war Theosoph und beschäftigte sich z.B. auch mit der Verwandtschaft litauischer Sprache und dem Sanskrit. Ich bin ja fast aus den Latschen gekippt, als ich im Jankus-Museum ein aufgeschlagenes Buch in einer Vitrine sah, mit einer farbigen Darstellung der geistigen Wesensglieder des Menschen samt indischen Bezeichnungen. Das passt nämlich in ein litauisches Dorf mit Störchen ungefähr so gut, wie ein Huhn auf den Bahnhof. Aber… - die Welt ist bunt und wir sind die Blüten.

Dies dachte ich auch beim letzten Besuch meiner gastronomischen Rettungsstation "Senasis Rambynas", ebenfalls unweit des Dorfes Bithenen, eine absolut reizende Lokalität, der ich als Übernachtungsort in dieser Gegend unbedingt den Vorzug geben würde. Für die Einheimischen wohl eher unerschwinglich teuer, aber die Getränkepreise sind moderat, d.h. man sitzt dort keineswegs nur mit deutschen Touristen. Schon bei meinem ersten Besuch dort hatte mich ein junger Kellner durch seine wache, offene und zuvorkommende Freundlichkeit überrascht und erfreut. Er erkundigte sich eiligst für mich, ob noch ein Zimmer frei sei, musste es aber verneinen, empfahl mir ein anderes Hotel, erklärte mir sehr gut den Weg dorthin, alles in ausgezeichnetem Englisch. Er war nicht immer dort, im Gegensatz zu mir, da es sonst gar keine andere Gaststätte gab. Hotel Lavirga hatte völlig undurchschaubare Öffnungszeiten. Als ich am letzten Tag meines Aufenthaltes einen Abschiedsbesuch auf dem Rombinus machte und ein wiederum köstliches Mittagessen im Senasis Rambynas genoss, war der junge Mann zufällig wieder dort und er spürte wohl, dass es die letzte Gelegenheit sei zu einer Frage, die er an mich hatte und nun also stellte, nämlich, wo ich herkäme. Als ich Berlin angab, machte er einen unsichtbaren Luftsprung und erzählte, das habe er sich gedacht und er liebe diese Stadt so sehr und dort habe er seine litauische Freundin kennen gelernt und er würde so gerne eine Zeitlang in Berlin studieren. Wir sprachen noch einiges und sind seither in losem mail-Kontakt. Ich bin gespannt, ob sein Plan, ein Stipendium für ein Studienjahr in Berlin zu bekommen, gelingt und ich würde mich sehr freuen, diesen jungen Litauer unterstützen zu können. Denn ich hätte dabei das Gefühl, dieses Land zu unterstützen, das ich durch den Dichter Johannes Bobrowski nun ein bisschen kennengelernt und lieb gewonnen habe.

Ich hatte noch einige schöne Begegnungen: nach einer langen Wanderung in glühender Sonne versuchte ich für das letzte Stück staubiger Schotterstraße mein Glück per Anhalter. Ein ganz junges Paar nahm mich mit. Unbeschwerte, blanke, strahlende junge Menschen.

Ich hatte noch einige schöne Begegnungen: nach einer langen Wanderung in glühender Sonne versuchte ich für das letzte Stück staubiger Schotterstraße mein Glück per Anhalter. Ein ganz junges Paar nahm mich mit. Unbeschwerte, blanke, strahlende junge Menschen. Zwei Tage darauf chauffierte wiederum ich eine sehr alte und eine jüngere Frau von Willkischken nach Schreitlauken. Ich musste gar nicht dorthin, aber die beiden standen so hilflos auf der Straße, erreichten offensichtlich niemand der helfen konnte und ich wusste ja bereits aus Erfahrung, dass der Weg sich ganz schön zieht, wenn man diese staubige Straße läuft. Auch auf der Rückreise nahm ich an einer Bushaltestelle eine alte Dame mit ihrer behinderten Tochter mit und bereue bis heute bitter, dass ich sie nicht ganz nach Hause gefahren habe, sondern nur in die nächste größere Ortschaft, wo sie womöglich wieder vergebens auf einen Bus warten würden. Und wenn diese wunderbaren alten, vom Leben gegerbten Frauen, mit denen ich ja leider keinerlei Verständigungsmöglichkeit habe außer Zeichensprache, dann ihr Portemonnaie aus der Handtasche nesteln und mir Geld geben wollen für eine Hilfe, die ich mehr als selbstverständlich finde, da muss ich schon aufpassen, dass ich nicht das Heulen bekomme.

Sehr lustig war hingegen die erste Begegnung mit Frau Edda Fricke. Ich wusste, dass sie Donnerstagabend in Silute/Heydekrug sein würde und kannte auch den Hotelnamen. Trotz des vorher schon ereignisreichen Tages machte ich mich auf den Weg. Die Aussicht, dann später nach Hause zu kommen, als die Partylaune meiner Monteure anhält, bestärkte mich. Ich fand das Hotel dank Navi völlig problemlos, erfuhr, dass Frau Fricke schon da sei, aber nicht auf ihrem Zimmer. Wahrscheinlich essen gegangen. Ich streunte also los, ging die Hauptstraße entlang und keine 10 Minuten später sehe ich durch die großen Fenster eines Restaurants vier Menschen an einem Tisch sitzen, die eindeutig das Flair einer deutschen Reisegruppe haben. Ich wagte mich hinein und wagte noch dazu nach einer Frau Fricke zu fragen, was, nach einem ganz kleinen nach Luft schnappen der verständlich eher hermetischen kleinen Gesellschaft mit einem deutenden Gestus beantwortet und, wenn ich mich recht entsinne, auch einem etwas resignierten "Also, Du kennst aber auch überall jemand" kommentiert wurde. Ich durfte mich zu Frau Fricke setzen und natürlich gab es viel zu erzählen an diesem Abend. Zwei Tage später sahen wir uns im Bobrowski Museum noch einmal. Die Heimfahrt von Heydekrug nach Willkischken war übrigens nicht ungefährlich, denn es regnete und ich merkte, dass auf der Landstraße nachts und bei Regen vorsichtiges Fahren angesagt ist: Schlaglöcher, wechselnder Straßenbelag, einheimische Überholmanöver mit Gegenverkehr, die Straßenränder mal befestigt, mal aber auch nicht.

Zur Rückreise von Litauen Richtung Polen empfiehlt sich per Auto wie schon erwähnt nicht der Montag. An der Grenze war dicker Stau. Danach ging es aber flott durch bis nach Masuren. Ich nahm nochmals zwei Anhalter mit, ein Pärchen aus Tschechien, die bei einem Rainbow Festival irgendwo in Litauen waren. Der Körpergeruch war außerordentlich aufschlussreich über die sanitären Bedingungen. Aber es scheint eine tolle Veranstaltung zu sein, es gibt wohl Menschen, die von einem Regenbogen-Fest zum anderen hüpfen weltweit. Hat doch was. Übernachtung in einer wunderschönen Agrotouristik bei Joanna & Heinz Grundel, also das sind Engel diese beiden. Die Anlage liegt an der E16 in der Mitte zwischen Orzysz und Elk und hat nur EINEN entscheidenden Nachteil: die E16. Die Autos und Laster fahren gefühlt neben dem Kopfkissen vorbei, aber alles andere ist so zauberhaft eingerichtet, dass man sich dran gewöhnen könnte. Auf der letzten Etappe nach Olsztyn habe ich mich noch mal deftig verfahren und landete nördlich von Masuren in einer Gegend, die eine Mischung aus Appenzell und Provence zu sein schien. Polen ist so abwechslungsreich!

Zur Rückreise von Litauen Richtung Polen empfiehlt sich per Auto wie schon erwähnt nicht der Montag. An der Grenze war dicker Stau. Danach ging es aber flott durch bis nach Masuren. Ich nahm nochmals zwei Anhalter mit, ein Pärchen aus Tschechien, die bei einem Rainbow Festival irgendwo in Litauen waren. Der Körpergeruch war außerordentlich aufschlussreich über die sanitären Bedingungen. Aber es scheint eine tolle Veranstaltung zu sein, es gibt wohl Menschen, die von einem Regenbogen-Fest zum anderen hüpfen weltweit. Hat doch was. Übernachtung in einer wunderschönen Agrotouristik bei Joanna & Heinz Grundel, also das sind Engel diese beiden. Die Anlage liegt an der E16 in der Mitte zwischen Orzysz und Elk und hat nur EINEN entscheidenden Nachteil: die E16. Die Autos und Laster fahren gefühlt neben dem Kopfkissen vorbei, aber alles andere ist so zauberhaft eingerichtet, dass man sich dran gewöhnen könnte. Auf der letzten Etappe nach Olsztyn habe ich mich noch mal deftig verfahren und landete nördlich von Masuren in einer Gegend, die eine Mischung aus Appenzell und Provence zu sein schien. Polen ist so abwechslungsreich!

Im erstbesten Hostel der Altstadt dann ein wiederum überaus freundlicher Pförtner. Leider hatte er den letzten Schlafplatz gerade vergeben, rief aber kurzerhand für mich in einem anderen Hostel an, und verabredete dort etwas. Klappte alles wunderbar. Das Hostel kann ich empfehlen, es heißt "Podgrodzie-Noclegi". Ob es auch schalldichte Zimmer hat, weiß ich nicht und sehr schamhaft sollte man auch nicht sein, der Sanitärbereich ist gender mäßig nicht festgelegt. Aber das PreisLeistungs-Verhältnis stimmt. Die junge Dame an der Rezeption bestellte mir auch gleich ein Taxi für den nächsten Morgen. Ich musste um 6 Uhr früh am Bahnhof sein, das war natürlich etwas nervenkitzlig. Ich ging trotzdem abends noch aus. Am alten Marktplatz war ein großer Stand mit Postkarten und allen möglichen Devotionalien und Souvenir-Abartigkeiten.

Lange mit einem polnischen Mann gesprochen. Anlass war, dass ich auf eine der zwei Postkarten nach Deutschland als Länderadresse "Niemescky" geschrieben hatte und das fand die ältere deutsche Dame, die den Kioskbesitzer Pawel unterstützt (er heißt Pawel und ist eine Art Instanz) so erheiternd, dass sie es dem polnischen Ökonom, der gerade dort stand, zeigen wollte. Höflich fragte sie, ob sie das dürfe. Natürlich durfte sie, zumal sie gleich erwähnte, dass der Ökonom hervorragend Deutsch spräche und ein exzellenter Kenner der polnischen Geschichte sei. Wir kamen auch später auf die polnische Geschichte zu sprechen. Aber wie fing es an… - ach, ja: das wäre eigentlich ja auch die ideale Abrundung des Gesprächs gewesen, es begann mit der Unfähigkeit der Deutschen zuzuhören, doch das hatte ich am Ende vergessen. Ausgangspunkt des Gespräches war nämlich, dass der Herr ausführte, was "Niemcy" (die richtige Schreibweise von "Deutschland") betrifft, so sei das Wort an sich schon doppeldeutig; es bezeichnet ursprünglich etwas wie "taub", und die Polen können sich mit allen Nachbarn gut verständigen, alle können "hören", nur die Deutschen eben nicht. Wir führten ein ca. einstündiges Gespräch und es war hochinteressant für mich, wie er die deutsche und die polnische Wirtschaftslage sieht und wie er die polnische Mentalität einschätzt. Er war sehr besorgt über sein Land und darüber, dass die begabteren jungen Menschen in die reicheren Nachbarländer abwandern, weil Polen nicht aus dem Agrarmodus herauskommt. Ich fragte ihn, was er sich für sein Land wünsche. Er schnaufte ein bisschen, zuckte die Achseln und sage: "Nur Frieden und Wohlstand." Dann wurde es teilweise sehr philosophisch. Warum schaute er sich eigentlich immer wieder so ängstlich um, als habe er Sorge, er werde beobachtet bei einem Gespräch, das er auf Deutsch führt oder MIT einer Deutschen. Nein, wahrscheinlich strengte es ihn nur sehr an, soviel und ziemlich schwierige Themen in einer Fremdsprache zu bewegen. Ich hoffe, ich habe gut zugehört.

Zum Thema der Verständigung ist ja das Bild der litauischen Claviere so genial. Zitiert aus der "Zeit": "… sie waren alle leicht verstimmt, also "wohltemperiert" (das darin auch Qualität der WÄRME hineingeheimnisst ist, finde ich besonders schön) und dadurch also konnten z.B. auch Fis - oder As Dur sich in und neben alten starken Tonarten ihr Recht verschaffen. So hielten die drei Klaviere des Donelaitis "demokratische Stimmung". Und genauso klingen die verschiedenen "Lagen" verschiedener Menschen nur zusammen, sobald sie nicht unbedingt "rein" klingen wollen."

Schlussakkord
Ich erwachte sehr früh und war nervös, wegen des Taxi und dem Zug usw. Ich nahm aus Versehen den Zimmerschlüssel mit, bat dann den Taxifahrer den Schlüssel bei Gelegenheit im Hotel abzugeben, das war gar kein Problem. Im Osten ist es für mich leichter, das Einfache einfach zu nehmen, das macht natürlich alles einfacher, aber seltsamerweise auch so melancholisch. Mein letzter starker Eindruck waren die vielen nackten Beine auf den Rolltreppen der Ebene 0 in der Shopping Mall beim Bahnhof Poznan , das ist die Ebene, die lila gekennzeichnet ist in den Wegweisern, welche zum Glück überall zu finden sind. … vielleicht ein Notruf, diese nackten, diese vielen erbarmungslos nackten Beine auf - und abwärts, rauf und runter. Viele wären klüger verhüllt, aber wie berührend sie doch sind, diese UNSCHULDIGEN Beine. So provokant sie auch manchmal daherkommen, das macht es umso rührender: sie sind trotz allem voll linkischer Keuschheit und wie umhüllt von Engeln, die mit ihnen auf - und nieder steigen und dabei eigentlich ja auch gar keine Rolltreppe brauchen.

Später, als ich alles aufschrieb, fiel mir auf, dass ich dieses Motiv der nackten Beine kannte, von Bobrowski nämlich. Das ist ja sogar einer meiner Lieblingssätze: "Schön, wenn man eine Hose hat, da braucht man nicht mit nackten Beinen rumlaufen." Den Satz sagt der Maler Philippi im Roman "Levins Mühle". Und am Ende, als der Großvater will, dass Philippi ihn doch in Ruhe lassen soll, dreht sich der Maler wie ein Kreisel, also, da tanzt er auch noch, wo er vorher doch schon auf ein Papier geschrieben hat, statt zu zeichnen, tanzt wie ein Kreisel, klatscht in die Hände und sagt: "Nein." Und dieses Philippische "Nein", das soll gelten, schreibt Bobrowski.
Ich schließe mich an.

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